Wer ist ein Abzocker?

Spitzenverdiener gelten als Abzocker. Bei diesem Wort ist Vorsicht geboten.

Es gibt Leute, die pro Monat mehr verdienen, als ein normaler Angestellter in seinem ganzen Leben zusammensparen kann. Die krasse Differenz zwischen Durchschnitts- und Spitzenlöhnen erzeugt im Volk seit Jahren Unmut. Besonders heftig in der Kritik stehen die Chefs und Verwaltungsräte börsenkotierter Schweizer Firmen. Gegen sie richtet sich die «Abzockerinitiative». Das 2008 eingereichte Volksbegehren fordert unter anderem eine Machtverschiebung vom Verwaltungsrat hin zu den Aktionären; sie sollen in Zukunft die Bezüge der obersten Gremien selber bestimmen können.

Ob die von der Initiative geforderten Massnahmen umgesetzt werden, scheint angesichts der Dauerdebatte im Parlament fraglich. Tatsache ist: Auch wenn die Aktionäre den Rahmen für die Topgehälter vorgeben würden, bliebe eine Grundfrage ungelöst, nämlich: Wer ist ein «Abzocker»?

Schlagwort mit Tücken
Es ist zweifellos nötig, über Spitzengehälter zu diskutieren, denn mangelnde Selbstbeschränkung setzt die Balance zwischen Eigeninteressen und Gemeininteressen aufs Spiel. Wenn die Lohnpolitik Grenzen sprengt, die niemand mehr versteht, reisst sie soziale Gräben auf. Mehr noch: Indem die Konzerne ihren Spielraum überstrapazieren, riskieren sie, dass der Staat ihnen auf die Finger klopft und ihren Handlungsspielraum einengt. Doch bei aller Kritik an Spitzenlöhnen: Auch das Wort Abzocker, so wie es derzeit inflationär verwendet wird, hat einen schalen Beigeschmack.

  • Das Wort ist unscharf: Ab welcher Lohnhöhe beginnt die Abzockerei? Ist ein Abzocker, wer das Zehnfache der Putzfrau verdient? Das Hundertfache? Oder beginnt die Abzockerei schon bei 200’000 Franken Jahreslohn? Es existiert kein objektives Kriterium, das Abzockerei messen könnte.
  • Das Wort ist willkürlich: Es existiert fast nur im Zusammenhang mit Spitzenlöhnen. Doch Abzockerei findet auf allen Gehaltsebenen statt. Wie soll man einen Angestellten mit 100’000 Franken Jahreseinkommen nennen, der sich regelmässig seiner Verantwortung entzieht?
  • Das Wort ist ein Bumerang: Es züchtet im schlechten Fall eine Neidkultur, die früher oder später alle Gutsituierten mit Argwohn betrachtet. Der Vorwurf der Abzockerei könnte also auf jene zurückfallen, die ihn heute bei jeder Gelegenheit im Mund führen.

Fazit: Die Lohndebatte kommt ohne den Abzocker aus. Das Wort ist ein verbaler Zweihänder. Es fehlt ihm an Differenziertheit und Respekt – exakt jenem Respekt, den man von den Spitzenverdienern so vehement einfordert.

Details

Kategorie

Wortkritik

Stichwörter

Datum

Autor