Restrukturierung

Gestern Abend  – ich flanierte gerade durch unsere prächtige Altstadt – traf ich Noldi. Er hatte eine Sonnenbrille auf der Nase, was mich irritierte, denn Noldi trägt sonst nie Sonnenbrillen. Ausserdem hatte es schon eingenachtet. Als er mich sah, suchte er Deckung hinter dem Kehrichtberg einer mobilen Fressbude.

Ich liess mich nicht abschütteln: «Noldi, spinnst du? Was machst du hier im Abfall?»

«Sei still, sonst erkennt mich jemand.»

Der Leser muss wissen: Noldi gehört zur lokalen Wirtschaftsprominenz und bewegt sich normalerweise gern im Rampenlicht. Seine plötzliche Scheu musste einen triftigen Grund haben.

«Was ist passiert?», fragte ich.

«Ich traue mich kaum mehr auf die Strasse», flüsterte Noldi.

«Das sehe ich. Ist euer Buchhalter mit der Kasse durchgebrannt?

«Nein, nein, wir haben äh . . .»

« . . . Politiker geschmiert? Kunden über den Tisch gezogen?»

«Nein, wo denkst du hin! Unsere Firma hat ein wirklich ernsthaftes Imageproblem!»

«Lass hören.»

«Bei uns läufts prächtig. Die Zahlen stimmen, die Mitarbeiter sind gut gelaunt. Wir haben überhaupt keinen Grund, etwas zu ändern.»

«Und das ist schlecht fürs Image?»

«Natürlich, wir sind die letzte Firma in der Gegend, die noch nicht restrukturiert worden ist. Der Kurs unserer Aktie dümpelt, wir gelten nicht mehr als innovativ, verstehst du? Wenn wir nichts unternehmen, laufen uns Kunden und Investoren davon.»

Noldi lutschte ein Coramin. «Wir hatten gestern eine Krisensitzung mit der Gewerkschaft. Sie setzt uns gigantisch unter Druck. Wir müssen noch in diesem Jahr mit einer Restrukturierung beginnen.»

«Und wie sollt ihr das anstellen?»

«Das habe ich die Gewerkschaft auch gefragt. Wir konnten uns nach zähen Verhandlungen auf ein Vorgehen einigen.»

«Schmeisst ihr Leute raus?»

«Das kommt später. Erst muss das Personal glauben, dass ein Stellenabbau das Beste für die Firma ist.»

«Die Gewerkschaft ist damit einverstanden?»

«Natürlich, sonst könnte sie später ja nicht gegen den Kahlschlag protestieren – aber ich wollte dir doch gerade erklären, wie wir vorgehen.»

«Ich bin ganz Ohr.»

«Zuerst schreiben wir unter der Belegschaft einen Wettbewerb aus: Wer das schönste Organigramm zeichnet, kommt in den Verwaltungsrat. Das gaukelt vor, die Leute hätten Einfluss auf wichtige Entscheide.»

Auf meine Frage, was denn unter «schönem Organigramm» zu verstehen sei, weihte mich Noldi weiter in die Geheimnisse der Restrukturierung ein: «Es gewinnt nur ein Organigramm, das lückenhaft ist – das ermöglicht weitere Restrukturierungen. Ausserdem muss es so beschaffen sein, dass man die Firma unmöglich wiedererkennt. Das weckt den Pioniergeist.»

«Aha, und wann kommt der Stellenabbau?»

«Nach dem Wettbewerb starten wir unter Führung einer Beraterfirma fünf Projekte, die das Unternehmen gründlich analysieren. In diese Analyse involvieren wir aus Motivationsgründen zahlreiche Mitarbeiter. Weil die Hälfte unserer Angestellten mit der Analyse beschäftigt sein wird, bricht der Umsatz ein. Uns bleibt dann keine andere Wahl mehr, als Löhne einzusparen – was angesichts der desolaten Situation auch dem Personal einleuchten dürfte.»

«Das ist aber fies».

«Manchmal muss man die Leute zu ihrem Glück zwingen», belehrte mich Noldi.

«Wie geht’s weiter?»

«Mit dem Stellenabbau verbinden wir eine Medienkonferenz, auf der wir darlegen, warum die schlankere Struktur unsere Marktposition stärkt. Gleichzeitig verkünden wir, dass der Turnaround in einem Jahr geschafft sein wird und drücken unser Verständnis für die Empörung der Gewerkschaft aus, betonen aber, dass nur schmerzhafte Massnahmen die restlichen Arbeitsplätze erhalten können.»

«Und dann?»

«Wir beenden die Restrukturierung. Die Angestellten haben wieder Zeit zu arbeiten, und wir präsentieren hervorragende Zahlen. Die Aktien steigen, die Finanzwelt applaudiert, unser Image ist fleckenloser denn je.»

«Ich bin beeindruckt», gestand ich.

«Ja», strahlte Noldi, «es sieht aus, als könnten wir die Firma retten.»

Zeichnung: Andreas Buser, Bern
buserkarikaturen.ch

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