Lernende und Mitarbeitende?

Wer politisch korrekt sein will, formuliert heute geschlechtsneutral. Das ist gut. Solange wir den Text nicht ruinieren.

Mann und Frau sind gleichberechtigt. Dieser Satz steht seit 1981 in der Bundesverfassung. Und seit 1995 haben wir ein Gleichstellungsgesetz, das verbietet, Angestellte wegen ihres Geschlechts zu benachteiligen. Der gesellschaftliche Status der Frau hat sich verändert, und mit ihm das Denken und die Sprache: Das Fräulein ist passé. Überlebt hat es noch als Retro-Gag. Und wer schreibt, versteckt die Frauen in der Regel nicht mehr hinter dem männlichen Begriff, sondern benennt sie – als Handlungsträgerinnen, als Betroffene.

Klassisch: die Doppelnennung
Die klassische Art, den Frauen in einem Text gebührend Platz einzuräumen, ist die Doppelnennung: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Zweifellos ein probates Mittel, aber nicht ganz ohne Nebenwirkung. Aus drei Gründen. Erstens: Wenn man die Doppelform kompromisslos anwendet, ist der Unsinn programmiert. Im Volkslied würde es heissen: Wir Senninnen und Sennen habens lustig. In der Werbung: Wer hats erfunden? – Die Schweizerinnen und Schweizer. Und wie wäre es mit den Hintermännern und Hinterfrauen? Das zweite Problem bei der Doppelnennung: Es kann passieren, dass wir ein Geschlecht ungewollt ins Scheinwerferlicht rücken. Einbrecherinnen und Einbrecher – nicht sehr nett gegenüber den Damen. Drittens: Falls wir im selben Text mehrfach zur Doppelnennung greifen, holpern die Sätze wie ein Fuhrwerk. Doch welches sind die Alternativen?

Neutrale Wörter verwenden
Wir suchen Wörter, die beide Geschlechter einschliessen: die Angestellten, die Beschäftigten, das Verkaufsteam, das Kabinenpersonal. Eine gute Lösung. Doch Vorsicht: Wenn wir neutrale Wörter zu oft verwenden, schaffen wir damit eine unerwünschte Distanz zu den Menschen, über die wir schreiben.

Die Personen von der Bühne holen
Wir bringen die Person nur indirekt ins Spiel. Statt zu sagen: «Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten zu viele Überstunden», bedienen wir uns zum Beispiel des Passivs: «Bei uns werden zu viele Überstunden geleistet.»

Maskulina und Feminina abwechseln?
Wir wechseln zwischen männlicher und weiblicher Form: «Gesucht sind Betriebswirtschafter, Juristinnen, Informatiker, Mathematikerinnen und Physiker.» Eine Variante, die irritiert. Dürfen sich der Jurist oder die Informatikerin auch bewerben?

Das Partizip I nominalisieren
Wir nominalisieren das Partizip I – machen also beispielsweise aus der Verbform mitarbeitend das Wort Mitarbeitende. Auch diese Variante ist mit Schwächen behaftet:

  • Das Partizip I ist unschön
    Wörter wie die Mitarbeitenden oder die Lernenden klingen schwerfällig. Und sie haben das Potenzial für Klamaukschöpfungen: die Strassenwischenden, die Buschauffierenden, die Pilotierendengewerkschaft.
  • Das Partizip I wird zweckentfremdet
    Das Partizip I dient dazu, etwas zu beschreiben, das gerade vor sich geht oder andauert. Beispiel: Sie verabschiedete sich dankend. Oder: Den Liebenden gehört die Welt. Das Partizip I beschreibt Vorgänge. Das ist seine Kernfunktion – eine Funktion, die erodiert, wenn wir das Partizip inflationär zum Herstellen geschlechtsneutraler Texte verwenden.
  • Das Partizip I ist ungenau
    Was ein Lehrling oder eine Lehrtochter ist, wissen wir. Was aber sind Lernende? Keineswegs nur Lehrlinge. Lernende sind – hoffentlich – die meisten Angestellten. Falls nicht, ist das Unternehmen lernresistent und dem Untergang geweiht. Das Wort Lernende ist also unpräzis. Genauso, wie wenn wir Sinti, Roma und Jenische pauschal als Fahrende bezeichnen. Ähnlich verhält es sich mit den Lehrenden: Zu ihnen gehören Lehrerinnen und Lehrer, aber ebenso Väter, Mütter oder Verkehrsinstruktoren.

Es ist gang und gäbe, das nominalisierte Partizip I für geschlechtsneutrales Formulieren zu verwenden. Doch ein Missklang wird nicht harmonischer, nur weil ihn das ganze Orchester spielt. Deshalb die Empfehlung: das Partizip I sehr zurückhaltend verwenden.

Männliche Allgemeinbegriffe
Häufig muss – auch heute noch – die männliche Form genügen. Formulieren Sie bitte die Aufzählung Kunden, Mitarbeiter, Kapitalgeber und Partner geschlechtsneutral. Resultat ist ein penibler Text. Ein anderes Beispiel: Stellen Sie sich ein Geschichtsbuch vor, in dem steht: «Die Eidgenossinnen und Eidgenossen entrissen den Französinnen und Franzosen Mailand.» Vielleicht doch besser: «Die Eidgenossen entrissen den Franzosen Mailand.» Noch ein Beispiel: Am  20. März 2013 berichtete Radio SRF über den Frauenanteil in der Ärzteschaft. Originalton: «Jeder dritte Arzt ist eine Frau.» Warum klingt das in unseren Ohren seltsam? Wir sind geschlechtsneutrales Formulieren derart gewöhnt, dass wir Maskulina als generische (allgemeine) Begriffe aus dem Kopf verbannt haben. Doch manchmal geht es eben nicht anders. Was hätte Radio SRF denn sagen sollen? «Jede dritte Ärztin ist eine Frau»?

Mit Augenmass
Fazit: Ein Text benötigt Balance. Er muss Frau und Mann berücksichtigen und er muss gepflegt geschrieben sein. Was er nicht darf: irritieren und mit der Brechstange Neutralität erzwingen. Sonst zertrümmert er die deutsche Sprache – und foppt das Publikum.

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