Interviews schriftlich führen?

Das Wort Interview stammt vom französischen entrevue, was verabredete Zusammenkunft bedeutet. Und genau das sollte ein Interview sein.

Wie sieht die Interviewpraxis in einem Unternehmensmedium aus? Manchmal so: Der Redaktor möchte ein Interview mit dem Konzernchef führen. Doch der will kein Gespräch; lieber möchte er die Fragen zugeschickt bekommen. Ist ein solches Vorgehen empfehlenswert? Nicht unbedingt.

Der Leser erwartet Originalton
Der Medienwissenschafter Roger Blum hält schriftliche Interviews nur für sinnvoll bei eingebunkerten Menschen wie Diktatoren oder Gefangenen, wie er gegenüber den Autoren des Buches «Medienrecht für die Praxis» ausführte. Roger Blum ist der Ansicht, schriftliche Interviews seien unjournalistisch, weil der Befrager die Antworten vorwegnehmen müsse. Tue er dies nicht, hänge vielleicht schon die nächste Frage in der Luft. Und damit die Frage eben nicht in der Luft hängt, liefert der Redaktor dem Befragten manchmal die Antworten gleich mit. Selbst wenn die Antworten autorisiert werden: Das Interview ist nicht echt. Zudem vermitteln schriftlich geführte Interviews keinen Originalton. Genau das erwartet der Leser aber. Der Reiz des Interviews ist es ja gerade, eine direkte, ungefilterte Stimme zu vernehmen. Auch wenn ein Interview durch die Textrevision, durch das Umstellen von Fragen und das Straffen der Antworten immer bis zu einem gewissen Grad ein Kunstprodukt ist: Die schriftliche Form verzerrt die Realität. Man gaukelt ein Gespräch vor, das nie stattgefunden hat.

Richtlinien sind hilfreich
Der Schweizer Presserat ist der Meinung, Journalisten sollten schriftliche Interviews ablehnen. Das bringt natürlich einen Redaktor, der im Auftragsverhältnis arbeitet oder angestellt ist, in die Zwickmühle. Er muss versuchen, dem Interviewpartner den Grund klarzumachen, warum das Interview in Form eines Gesprächs (Treffen, Telefon) stattfinden sollte. Ideal wäre, wenn sich der Redaktor dabei auf interne Richtlinien stützen könnte.

Autorisierung hat Grenzen
Ein häufiger Grund für schriftliche Interviews: Die meisten Menschen sind im direkten, schnellen Beantworten von Fragen ungeübt. Bekommen die Interviewpartner die Fragen schriftlich, haben die Antworten oft mehr Substanz. Um ungeübten Personen das Interview in Gesprächsform zu erleichtern, kommt ein Unternehmensjournalist seinen Interviewpartnern auf zwei Arten entgegen: Er skizziert die Themen, die er anschneiden möchte, damit sich der Interviewpartner besser vorbereiten kann. Und er gesteht dem Interviewten beim Gegenlesen des Textes ein grosszügiges Recht auf Korrekturen zu – was allerdings seine Grenzen hat: Ist das Interview nach der Autorisierung nicht mehr wiederzuerkennen oder werden gar die Fragen umformuliert, muss die Redaktion überlegen, ob die betreffende Person künftig als Interviewpartner noch geeignet ist. Eventuell wird es besser sein, kein Interview mehr zu führen, sondern die Aussagen der Person in einen Artikel zu integrieren, und zwar abwechselnd als Zitate in Anführungs- und Schlusszeichen, als indirekte Rede im Konjunktiv oder als Redebericht.
Die Empfehlung, Interviews nur mündlich zu führen, gilt natürlich nur für Interviews, die auch in Interviewform publiziert werden. Ein Interview kann ohne weiteres schriftlich geführt werden, wenn es nur der Recherche dient oder wenn die Redaktion einen Bericht mit Zitaten ergänzen will.

Foto: Beat Hühnli

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