Der Bürostuhl

«Sie haben einen Mausarm.»

Frau Jegerlehner sah ihren Orthopäden verständnislos an. «Wie meinen Sie das?»

«Sie arbeiten zu viel mit der Computermaus, Frau Jegerlehner. Deshalb haben Sie Schmerzen im Ellbogen und im Handgelenk. Ich verschreibe Ihnen einige Übungen. Schonen Sie Ihren Arm. Wenn’s nicht bessert, kommen Sie in zwei Wochen wieder.»

«Und was ist mit meinen Rückenschmerzen?»

«Aus Ihren Schilderungen zu schliessen, brauchen Sie einen besseren Bürostuhl. Reden Sie mit Ihrem Chef.»

Frau Jegerlehner plante den Termin mit Huber sorgfältig. Nicht am Montagmorgen, sondern gegen Ende Woche – dann, wenn Huber angesichts der bevorstehenden freien Tage manchmal ein sonniges Gemüt zeigen konnte. Frau Jegerlehner prüfte nochmals ihre Argumentation. Nein, sie würde keinesfalls über ihre Rückenschmerzen reden – Huber konnte jammernde Mitarbeiter nicht ausstehen. Man durfte bei ihm keine Schwäche zeigen. Erst vor einem Monat hatte Huber den kleinen Baumann zusammengestaucht. Baumann litt an Venen-Insuffizienz, weshalb er gelegentlich seine Beine durchblutungsfördernd auf den Schreibtisch legte – natürlich nur, wenn Huber weg war. Irgendein Trottel hatte Baumann dann bei Huber verpfiffen. Frau Jegerlehner dachte auch an Haslebacher, der beim Sitzen immer über starke Rückenschmerzen klagte. Huber hatte ihn eines Tages beim Nickerchen in der Hängematte erwischt. Und da war noch Kollegin Meier. Weil ihre Handgelenke das Tippen kaum mehr mitmachten, installierte sie ohne Erlaubnis eine Spracherkennungs-Software und löschte dabei versehentlich Hubers Moorhühner-Score. Huber tobte zwei Stunden lang und Kollegin Meier flüchtete heulend in Baumanns Arme.

Nein, Frau Jegerlehner würde Huber keinesfalls Angriffsfläche bieten. Sie würde stattdessen Hubers Lieblingsthema zur Sprache bringen: Leistung. Jawohl, mit einem neuen Bürostuhl wäre sie noch leistungsfähiger. Und das sagte sie Huber auch.

Huber blickte über den Rand seiner Brille: «Haben Sie ‹Die Unbestechlichen› gesehen?», fragte er. «Ich meine den Film über die Watergate-Affäre.» Frau Jegerlehner schüttelte den Kopf. «Dann habe Sie auch nicht gesehen, auf welch grauenhaften Stühlen Carl Bernstein und Bob Woodword bei der Washington Post arbeiten mussten – und das erst noch in einem dieser schrecklichen Grossraumbüros. Trotzdem . . . » – Huber stieg in eine höhere Tonlage – «trotzdem, Frau Jegerlehner, haben die beiden Journalisten Präsident Nixon zu Fall gebracht. Leistung hat demnach mit Bürostühlen gar nichts zu tun.»

«Aber», sagte Frau Jegerlehner leicht verunsichert, «war das nicht 1974?»

«Was soll die Frage?»

«Nun ja, die Stühle bei der Washington Post waren damals wohl die modernsten, die es gab. Und ich denke, heute hat die Redaktion wieder die modernsten.»

«Daran sehen Sie, dass nicht jeder Fortschritt wirklich sinnvoll ist», folgerte Huber. «Trotz neuer Stühle hat die Washington Post seit über dreissig Jahren keinen Präsidenten mehr gestürzt.»

Frau Jegerlehner wehrte sich tapfer: «Aber gingen die beiden Journalisten nicht häufig auf Vor-Ort-Recherche? Ich dagegen sitze den ganzen Tag, und das ist für die Leistung nicht optimal.»

«Na gut», sagte Huber. «Ich lasse Ihren Drucker ins obere Stockwerk zügeln. Dann haben Sie etwas mehr Bewegung.»

Frau Jegerlehner zog den letzten Trumpf: «Wären Sie mit einem neuen Stuhl einverstanden, wenn ich ihn bezahle?»

«Haben Sie schon einmal etwas von Corporate Identity gehört, Frau Jegerlehner?» Wir wollen kein zusammengewürfeltes Mobiliar. Es gibt für mich nur einen einzigen Grund für einen anderen Bürostuhl: Rückenschmerzen.»

Zur Feier des Tages kaufte sich Frau Jegerlehner noch am gleichen Abend «Die Unbestechlichen» auf DVD.

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